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#Aufschrei im Bücherregal und im Kinderzimmer

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Der Sexismus-Vorwurf gegen Rainer Brüderle hat eine landesweite (mittlerweile auch schon weltweite) Diskussion über Sexismus und sexuelle Belästigung ausgelöst. In den sozialen Netzwerken erzählen zehntausende Frauen (unter dem Hashtag #Aufschrei) vom ganz alltäglichen Sexismus, dem sie ausgesetzt sind (siehe z.B. hier). Auch die Talkshows im Fernsehen haben das Thema aufgegriffen – und dabei leider oft ziemlichen Unsinn produziert. Das war bei Günther Jauch so und ganz besonders bei ZDFlogin. Anstatt über das eigentlich Problem zu diskutieren, geschah dort genau das, was auch im Alltag immer wieder passiert: Man tut so, als wäre das Problem nicht vorhanden.

“Männer sind Opfer feministischer Hysterie” war die Behauptung, die ein gewisser Maximilian Pütz, ein “Dating Coach”, dort in seiner Rolle als “Gegenspieler” der #Aufschrei-Organisatorinnen vertrat. Eine Behauptung, die am Ende der Sendung immerhin die Zustimmung von 52 Prozent der Zuseher erhalten hat. Nicht die Frauen haben ein Problem. Es sind die Männer, die unter den Anschuldigungen der Frauen zu leiden haben. Es sind die Männer, die ignoriert werden, wenn sie von Frauen belästigt werden. Männer sind die Opfer, in einer Welt, die immer mehr von Frauen beherrscht und bestimmt wird. Das klingt absurd, das ist absurd, aber das ist eine Meinung, auf die man leider sehr häufig trifft, wenn über Sexismus und sexuelle Belästigung diskutiert wird. Sofort wird die Rolle von Opfern und Tätern vertauscht; sofort wirft man den Frauen selbst Sexismus vor (hier ist ein Paradebeispiel für dieses perfide Verhalten); sofort wird probiert, das Problem kleinzureden und zu relativieren. Kaum erzählt eine Frau davon, wie sie selbst unter Sexismus oder sexueller Belästigung zu leiden hat, kommen Männer und versichern ihr, dass sie sich nicht so anstellen soll; immerhin gibt es ja auch Männer die von Frauen belästigt werden und über die redet keiner.

So eine Argumentation ist selbstverständlich absurd (das wird hier sehr schön erklärt). Erstmal hat niemand irgendwo behauptet, dass es allein und ausschließlich die Frauen sind, die unter Sexismus zu leiden haben. Und zweitens gibt es auch noch sowas wie Fakten, Daten und Statistiken. Und die zeigen klar und deutlich, wer hier mehr zu leiden hat und wer weniger. Ein Beispiel: Wenn Statistiken belegen würden, dass 97 Prozent aller Todesfälle im Straßenverkehr durch Alkohol am Steuer verursacht werden und 3 Prozent durch überhöhte Geschwindigkeit, was soll man dann tun? Natürlich dafür sorgen, dass die Leute nicht mehr besoffen fahren! Man soll dabei natürlich die Raser nicht ignorieren. 3 Prozent sind 3 Prozent und immer noch 3 Prozent zu viel. Aber wenn man etwas gegen die Verkehrstoten tun will, dann ist der Alkohol das Problem. Und genauso sind beim Sexismus und bei der sexuellen Belästigung das Problem die Männer, die Frauen belästigen.

Wenn Männer und Frauen über Sexismus diskutieren, dann gibt es ganz offensichtlich enorme Verständnisprobleme. Die #Aufschrei-Debatte hat gezeigt, dass so gut wie jede Frau schon einmal unter Sexismus und sexueller Belästigung zu leiden hatte. Sie hat gezeigt, dass vermutlich so gut wie jeder Mann – bewusst oder unbewusst – für Sexismus oder sexuelle Belästigung verantwortlich war. Und trotzdem ist es fast unmöglich, vernünftig darüber zu reden. Es fällt Männern offensichtlich enorm schwer, zu verstehen, wie es den Frauen geht und warum gewisse Dinge problematisch sind.

Aber wen wundert das? Ich war heute wieder mal im Buchgeschäft und dort sieht man wunderbar, woher die Verständnisprobleme kommen. Eigentlich ist die Sache ja ganz einfach. Frauen wollen mit genau dem gleichen Respekt behandelt werden, wie ihn auch Männer für sich einfordern. In der Hinsicht sind Frauen und Männer gleich; beide sind Menschen. Aber wie soll das in einer Welt funktionieren, in der man schon als Kleinkind lernt, dass Frauen und Männer fundamental verschieden sind:

Frauen sind die süßen Prinzessinnen, die zerbrechlichen Elfen. Männer sind Piraten, Ritter und Fussballer. Männer sind die Abenteurer, die raus in die Welt gehen und Dinge machen. Frauen bleiben zu Hause und kümmern sich um den Rest. Und das wird einem nicht nur im Bücherregal beigebracht, sondern auch überall sonst. Zum Beispiel im Spielzeugladen:

Männer, das sind die mit den schnellen Autos; die, die arbeiten und wichtige Dinge erledigen. Frauen liegen unterm Sonnenschirm, pflücken Blumen und trinken Kaffee mit anderen Frauen (Dieses Video zeigt das Lego-Frauenbild in all seiner Rückständigkeit).

Es geht hier nicht nur um die klassischen Rollenbilder, die durch diesen ganzen “Jungs vs. Mädchen”-Mist schon im Kleinkindalter zementiert werden. Es geht vor allem darum, wie man das andere Geschlecht zu sehen lernt. Wir leben in einer Welt, die lange Zeit hindurch komplett von Männern dominiert wurde und in der Frauen kaum besser gestellt waren als Haustiere oder anderen Besitz der Männer. Wir leben in einer Welt, in der die Frauen erst vor vergleichsweise kurzer Zeit begonnen haben, die gleichen Rechte einzufordern wie sie die Männer traditionell immer schon hatten. Aber die Welt in den Köpfen hat sich immer noch nicht ausreichend verändert. Männer lernen immer noch, die Frauen in den traditionellen Rollen zu sehen, die sie immer schon hatten. Und wenn die Frauen diese Rollen plötzlich nicht mehr spielen wollen, dann stiftet das Verwirrung. Wenn Frauen sich nicht mehr so behandeln wollen lassen, wie sie lang genug behandelt worden sind, dann stößt das auf Unverständnis. Denn die alten Rollenbilder werden immer noch in die Köpfe der Kleinkinder gehämmert. Und dann wundert man sich auch nicht mehr, wenn der “Dating Coach” Maximilian Pütz erklärt, dass man sich um ein “Nein” beim Flirt mit der Frau erstmal nicht zu kümmern braucht und sich dann als “Opfer” sieht, wenn die Frau sich darüber beschwert.

Sexismus und sexuelle Belästigung sind Probleme, das zeigt die #Aufschrei-Debatte und das zeigen vor allem die Geschichten der zehntausenden Frauen. Sexismus und sexuelle Belästigung sind Probleme, die vor allem von Männern durch ihr Verhalten gegenüber Frauen verursacht werden. Und damit sich daran etwas ändert muss man nicht nur daran arbeiten, das eigene Verhalten zu verändern. Man muss vor allem aufhören, Kindern Dinge über Frauen und Männer beizubringen, die nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Das heißt nicht, dass man so tun muss, als wären Jungs und Mädchen absolut identisch. Das heißt nicht, dass jegliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern ignoriert werden müssen. Aber man muss den Kindern nicht irgendwelche Rollen aufzwingen. Solange die traditionellen Rollenbilder weiterhin schon in den Köpfen der kleinen Kinder präsent sind, wird sich am grundlegenden Problem nichts ändern. Und diese Rollenbilder sind leider überall. Beim Spielzeug, in den Kinderbüchern, im Fernsehen, in den Zeitungen. Wenn man endlich mal mit diesem Rosa-Blau-Prinzessin-Pirat-Marketing-Quatsch aufhören würde, dann besteht auch die Hoffnung, dass aus den Kindern Erwachsene werden, die einander mit Respekt behandeln.

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